Vertrieben – Ermordet – Vergessen

Steine der Erinnerung in der Westbahnstraße
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Vertrieben – Ermordet – Vergessen
Notizen zum Schicksal der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner der Westbahnstraße.
Von Alfred Stalzer
 
Am 7. September 2017, mehr als 75 Jahre nachdem die ersten Transporte in die Konzentrations- und Vernichtungslager vom Aspangbahnhof aus ihren Weg genommen hatten, wurde endlich ein Mahnmal für die mehr als 45.000 Opfer der Öffentlichkeit übergeben. Dass die Errichtung der Gedenkstätte so spät erfolgte, ist umso beschämender, als dieser Bahnhof der zentrale Ort für die Deportationen der jüdischen Bevölkerung Österreichs war. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Bahnhof noch bis 1970 für den Personenverkehr in Betrieb und nichts wies auf das Geschehene hin. Der Aspangbahnhof befand sich mitten in der Stadt, sodass der zuweilen wöchentliche Abtransport von jeweils rund tausend Jüdinnen und Juden nicht unbemerkt, sondern vor den Augen der Wiener Bevölkerung erfolgte. Die Bilanz ist grauenhaft: Zwischen 1939 und 1945 wurden insgesamt fast 50.000 Jüdinnen und Juden aus Wien deportiert, davon 47.035 Personen in 47 Transporten vom Wiener Aspangbahnhof. Die Zielorte der Deportationen aus Wien waren das „Generalgouvernement“ (Nisko, Opole, Kielce, Modliborczicze, Łagów/Opatów und Izbica), Łódź (Ghetto Litzmannstadt), Riga, Minsk mit Maly Trostinec (Weißrussland), Theresienstadt („Protektorat“) und Auschwitz (Oberschlesien). Von den vom Aspangbahnhof deportierten Jüdinnen und Juden überlebten nur 1.073 Personen. (vgl. dazu auch: Die Presse vom 7.9.2017)
 
Die ersten beiden Transporte vom Aspangbahnhof erfolgten im Oktober 1939: 1.584 jüdische Männer wurden für das gescheiterte Experiment eines so genannten „Judenreservats“, wie es damals euphemistisch hieß, nach Nisko am San im Distrikt Lublin deportiert. Unter den Deportierten der ersten Stunde befanden sich vier Bewohner der Häuser Westbahnstraße Nr. 16, 54, 58 und des Hauses Nr. 59 – sie zählten damit zu den ersten Opfern der Massendeportationen: vier Männer im Alter zwischen 37 und 57 Jahren, über deren weiteres Schicksal wir nichts wissen.
 
Die weiteren großen Deportationen waren zwischen 15. Februar 1941 und 9. Oktober 1942 organisiert. In diese Zeit fallen auch viele der Deportationen der mehr als 40 verschleppten Personen, die in der Westbahnstraße wohnhaft waren. Die Mehrheit wurde direkt aus Wien verschleppt, einige versuchten offensichtlich die Flucht und endeten nach ihrer Gefangensetzung in Malines (Belgien) bzw. Drancy (Frankreich) in der Folge im Vernichtungslager Auschwitz.
 
Der zeitliche Ablauf der Deportationen der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner der Westbahnstraße ist ein Spiegelbild der Verfolgung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland im März 1938 setzte die Verfolgung ein und es dauerte auch in der Westbahnstraße nicht lange, bis „ehrbare Bürgerinnen und Bürger“ ihre Nachbarn denunzierten, die meisten wohl weniger aus nationalsozialistischer Überzeugung, sondern eher aus Gier, denn die Wohnungen der Deportierten wurden meist rascher geplündert als die Behörden darauf zugreifen konnten.
 
Die Vorgangsweise war ja durchaus gelernt und wurde von der so genannten Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien mit höchster Perfektion organisiert. Diese SS-Dienststelle unter Leitung Adolf Eichmanns war im August 1938 eingerichtet worden, um die zwangsweise Emigration von österreichischen Juden zu beschleunigen und ab Oktober 1939 deren Deportationen zu organisieren und durchzuführen. Bis zum November 1938 konnten mehr als 40.000 Jüdinnen und Juden meist unter Zurücklassung ihres gesamten Vermögens emigrieren. Denn die Kosten der zwangsweisen Emigration sollten von den Opfern selbst bezahlt werden. Wer nicht genügend Vermögen besaß, um die Zwangsabgaben wie „Passumlagen“ oder die „Reichsfluchtsteuer“ zu bezahlen, musste auf eine „Auswanderungsunterstützung“ der Jüdischen Gemeinde oder Hilfe des Joint Distribution Committees hoffen. Die Tatsache, dass so viele jüdische Bewohnerinnen und Bewohner der Westbahnstraße nicht von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, legt die Vermutung nahe, dass sie weder die ökonomischen Mittel noch Verwandte im Ausland hatten, die ihnen zur Emigration verhalfen
 
Was bedeutete die Deportation?
Wer nicht schon in den Lagern von Maly Trostinec, Nisko oder in den Gettos von Riga und Lodz umgekommen war, endete meist in der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz Birkenau. Für viele der Deportierten endete die Vertreibung jedoch bereits vor der Auslöschung in dem wohl bekanntesten Vernichtungslager des Nationalsozialismus. Was in Auschwitz wie und in welchem Umfang passierte, soll hier nicht beschrieben werden – es ist als bekannt vorauszusetzen. Weniger bis kaum bekannt sind die Stationen der Vernichtung, wo Jüdinnen und Juden aus dem nationalsozialistischen Einflussgebiet zu Tode kommen konnten.
 
Nisko – das „Judenreservat“
1938 plante Adolf Eichmann, Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, die seit August 1938 die Vertreibung der Juden forciert hatte, die Schaffung eines „Judenreservates“ im Gebiet östlich von Nisko am Fluss San an der Grenze des „Generalgouvernements“. Dieses Projekt wurde nicht realisiert, trotzdem wurden die Transporte von Aspang organisiert. Im Rahmen dieser Aktion gelangten von Wien aus zwei Transporte nach Nisko, der erste am 20. Oktober 1939 mit 912 und der zweite am 27. Oktober 1939 mit 672 Männern. Die Erstellung der Liste von 1.000–2.000 »Auswanderern« wurde der Israelitischen Kultusgemeinde übertragen. Nur ein kleiner Teil der aus Wien Deportierten, etwa 200 Männer, gelangte in das Lager, während die Mehrheit über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie gejagt wurde. Die meisten dieser Deportierten bemühten sich bei den sowjetischen Behörden um Rückkehrmöglichkeiten nach Wien, weshalb sie der NKWD, die stalinistische Geheimpolizei, als politisch »unzuverlässig« einstufte und in Zwangsarbeitslager verbrachte. Aus diesen Lagern kehrten bis 1957 nur etwas mehr als 100 Männer nach Wien zurück. Nach dem Abbruch der Gesamtaktion wurden die 198 zurückbehaltenen Männer nach Wien zurückgeschickt – viele von ihnen wurden mit späteren Transporten neuerlich deportiert.
 
 
Maly Trostinec – das perfekte Todeslager
Das Todeslager Maly Trostinec unweit von Minsk in Weißrussland ist jenes, in dem die Nazis mit der grausamsten Effizienz mordeten. Von 10.000 deportierten jüdischen Wienerinnen und Wienern überlebten nur 17. Das "Reichskommissariat Ostland" war eine im Juli 1941 gebildete Verwaltungseinheit des Deutschen Reichs, die die früheren baltischen Staaten sowie den größten Teil des westlichen Weißrussland umfasste. Von den insgesamt 65.000 von den Nazis ermordeten österreichischen Jüdinnen und Juden wurden circa 13.000 in einem Waldstück bei Maly Trostinec getötet. Sie waren zu einem einzigen Zweck nach Weißrussland gebracht worden – um unmittelbar nach der Ankunft ermordet zu werden. Die meisten wurden erschossen, einige in eigens konstruierten Fahrzeugen vergast. Maly Trostinec kann aufgrund des ausschließlichen Tötungszwecks nicht als Konzentrationslager bezeichnet werden. Es war ein Vernichtungslager. Von den 1942 knapp unter 8700 nach Maly Trostinec verschleppten österreichischen Juden und Jüdinnen – rund 8500 aus Wien Deportierte – sind 17 Überlebende bekannt. Auch viele der 1000 bereits am 28. November 1941 von Wien in das Getto Minsk deportierten Männer, Frauen und Kinder wurden vermutlich bei Maly Trostinec getötet (von ihnen sind drei Überlebende bekannt). Dies hatte zur Folge, dass niemand berichten konnte, daher blieb der Ort so lange unbekannt.
 
Litzmannstadt – vom Getto zum Vernichtungslager
Litzmannstadt, gemeinhin besser bekannt als Lodz, wurde zunächst als Getto analog dem Getto von Warschau eingerichtet. Die Lebensbedingungen war ebenso katastrophal:  Zwischen dem 15. Oktober und 2. November 1941 trafen rund 5.000 jüdische Opfer aus Wien in Lodz ein – sie wurden vom Bahnhof Aspang aus deportiert. Über 78 Prozent von ihnen waren älter als 45 Jahre, über 41 Prozent älter als 60 und fast neun Prozent hatten bereits das 70. Lebensjahr überschritten; weit über die Hälfte waren Frauen. Schon aufgrund ihres Alters wurden viele der Wiener Juden als »arbeitsunfähig« eingestuft und ab Mai 1942 nach Chelmno/Kulmhof transportiert, wo sie in mobilen Tötungseinrichtungen, den »Gaswagen«, ermordet wurden. Bis zum Beginn des Sommers 1942 tötete die SS ungefähr die Hälfte aller Personen, die im Oktober/November 1941 nach Lodz deportiert worden waren. Von den rund 5.000 Wiener Juden waren im Herbst 1942 nur noch 615 am Leben. Als das Ghetto in Lodz im August 1944 aufgelöst und alle Ghettoinsassen nach Auschwitz deportiert wurden, lebten noch ca. 300 bis 400 der Wiener Juden. Die Selektion in Auschwitz, die Zwangsarbeit in den verschiedenen Konzentrationslagern forderten weitere Opfer. Nur 34 der nach Lodz deportierten Wiener Juden haben die Befreiung erlebt.
 
Was nicht vergessen werden darf, ist die Tatsache, dass Anfang November 1941 in Lodz noch mehr als 5.000 Sinti und Roma ankamen, die in einem separierten Bereich untergebracht wurden. Die Mehrheit kam aus den Lagern in Lackenbach, Oberwart, Pinkafeld und Fürstenfeld – also österreichischem Gebiet. Es gab in diesem „Zigeunerlager“ weder sanitäre Einrichtungen noch Kochgelegenheiten. Innerhalb weniger Wochen starben mehrere hundert Menschen an Hunger und Typhus. Von hier aus erfolgten Anfang 1942 Deportationen zur massenhaften Ermordung ins Vernichtungslager Kulmhof.
 
Riga – Zwangsarbeits- und Todeslager
Dass auch drei über 70-jährige Bewohnerinnen und Bewohner der Westbahnstraße nach Riga verschleppt wurden, ist erstaunlich, da nur wenige Juden aus Wien in die lettische Hauptstadt deportiert wurden. Am 1. Juli 1941, neun Tage nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, nahmen deutsche Truppen die Stadt Riga ein. Am selben Tag kam es zu Pogromen gegen Juden, bei denen sich lettische Nationalisten hervortaten und binnen dreier Monate mehr als 6.000 Personen in Riga und Umgebung ermordeten. Das Getto von Riga war ein kleiner, abgesperrter Randbezirk, in dem die deutschen Besatzer die jüdische Bevölkerung des Landes internierten. Fast alle wurden entweder gleich innerhalb des Gettos oder in den angrenzenden Wäldern oder benachbarten Konzentrationslagern ermordet. Nördlich von Riga wurde das Konzentrationslager Kaiserwald errichtet, das kein Vernichtungslager war. Deutsche Großfirmen, hauptsächlich die AEG, setzten zahlreiche Insassinnen aus Kaiserwald als Zwangsarbeiterinnen für die Produktion ihrer elektrischen Geräte in Kaiserwald und seinen Außenlagern ein. Wegen des Vorrückens der Roten Armee auf die baltischen Länder begannen die Deutschen 1944 das Lager zu „evakuieren“. Hinter dem Begriff „evakuieren“ können aus Sicht der NS-Täter zwei Vorgänge stehen: Abtransport oder Massenmord der Häftlinge, bevor alliierte Truppen das Lagergebiet erreichen. Diejenigen, von denen man annahm, dass sie die Fahrt nicht überstehen werden, wurden erschossen. Insbesondere alle Juden, die „straffällig“ geworden waren, auch wenn es sich nur um kleine Vergehen handelte, aber auch alle, die jünger als 18 oder älter als 30 waren, wurden unmittelbar vor der Evakuierung des Lagers hingerichtet. Die BewohnerInnen der Westbahnstraße dürften aufgrund ihres vorgerückten Alters bereits kurz nach Ihrer Ankunft 1941/42 ermordet worden sein.
 
Resümee – warum gerade der 7. Bezirk?
Wie in den meisten Wiener Bezirken innerhalb des Gürtels lebten auch im 7. Bezirk viele Personen jüdischer Herkunft. Es wird geschätzt, dass der Anteil der jüdischen Bevölkerung hier zwischen 12 und 15 Prozent lag, was überdurchschnittlich hoch war. Religiöser Mittelpunkt war das Bethaus in der Schottenfeldgasse 60, das in der Reichspogromnacht im November 1938 vollständig zerstört wurde. Der Bezirk war wirtschaftlich von großer Bedeutung, da hier neben den großen jüdischen Kaufhäusern Gerngroß und Haber (Herzmansky war trotz des Namens ursprünglich nicht in jüdischem Besitz) auch zahlreiche jüdische Handwerksbetriebe wie Hutmacher, Kürschner, Posamentierer, Seidenfabrikanten und Lederwarenfabrikanten angesiedelt waren. Viele bekannte jüdische Persönlichkeiten des Kulturlebens wie Karl Farkas, Ruth Klüger, Egon Friedell, Georg Kreisler, Fritz Kortner, Hans Weigel, Berthold Viertel oder Fritz Hochwälder lebten bis zu ihrer Vertreibung oder Ermordung im 7. Bezirk.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Wien änderte sich die Situation für die jüdische Bevölkerung auch im 7. Bezirk drastisch. Viele von ihnen kamen in die Sammellager in der Kenyongasse 4 und 7 bzw. im ehemaligen Bezirksgericht Neubau Burggasse 69. Insgesamt fielen rund 950 Menschen aus dem Neubau der Vernichtung zum Opfer. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Westbahnstraße sind ein wesentlicher Teil davon.
 
 
 
 
 
Zum Autor:
Alfred Stalzer ist Historiker und Publizist und war unter anderem Pressesprecher und Kurator am Jüdischen Museum Wien

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